Der Doppelgänger

Militärhumoreske von Hermann Ferschke
in: „Nebraska Staats-Anzeiger” vom 10.02.1898


Das zweite Bataillon eines Brandenburgischen Infanterie-Regiments war nach der kleinen Festung K. versetzt worden; dasselbe hatte bisher und seit langen Jahren in einer Kreisstadt der Provinz gestanden und daselbst ein gemüthliches und beschauliches Dasein geführt, denn es gab dort weder eine Kaserne, noch hohe Vorgesetzte und nichts von alledem, was eine größere Garnison oft recht ungemüthlich machen kann. Nun machte die Festung K. keineswegs den Anspruch, eine größere Garnison sein zu wollen, denn es standen daselbst außerdem nur noch ein Bataillon eines anderen Infanterie-Regiments, sowie eine Festungs-Artillerie-Kompagnie, aber dennoch fanden weder die Offiziere, noch die Mannschaften diesen Garnisonwechsel nach ihrem Geschmack. Vor allen Dingen war es der Wachtdienst in der Festung, welcher ihnen äußerst fatal war.

Während in der alten, heimathlichen Garnison täglich nur eine einzige, unbedeutende Wache aufzog, welche höchstens drei Posten stellte, so daß Monate vergingen, ehe man wieder daran kan, bedurfte es in K. zur Besetzung aller Wachen und Posten täglich einer ganzen Kompagne, so daß man fast jede Woche einmal auf Wache ziehen mußte. Dies war weder den Hauptleuten angenehm, welche auf diese Weise in der Ausbildung ihrer Kompagnien recht empfindlich gestört wurden und außerdem den ungewohnten Dienst eines Offiziers du jour versehen mußten, am allerwenigsten aber den Lieutenants, welche bisher vom Nacht-Ronde-Dienst absolut keinen Schimmer hatten und nun in dieser ganz fremden Garnison abwechselnd Nächte lang die sieben Wachen und zahlreiche, zum großen Theil recht entfernt und versteckt liegende Posten revidiren mußten.

Mit der alten Gemüthlichkeit war es zu Ende; daß aber diese neue Situation geradezu ungemüthlich wurde, dafür sorgte der Festungs-Kommandant, Oberstlieutenant von Schleichwitz. Dies war ein kleiner, alter Herr, mit einem kleinen, eingetrockneten Gesicht, auf welchem ein Lächeln selten zu erblicken war. Er ließ die ihm anvertraute Festung auf das Peinlichste bewachen, der Wachtdienst war seine Spezialität, und seine einzige Sorge ging dahin, daß derselbe richtig versehen wurde.

Mit dem ihm überwiesenen neuen Bataillon, welches, wie er sehr bald bemerkte, vom Festungsdienst nichts kannte, war der Kommandant sehr unzufrieden und er machte daraus auf den täglich stattfindenden Wachtparaden kein Hehl, indem er dem Bataillonskommandeur. Major von Dorpitzki, fortwährend Klagen und Beschwerden vortrug, welche darin gipfelten, daß seine jungen Lieutenants viel zu flott lebten und dabei den Dienst vernachlässigten.

„Im Festungsdienst verlange ich auch im Frieden die äußerste Gewissenhaftigkeit, Herr Major,” sagte er bei solcher Gelegenheit eines Tages bei der Wachtparade. „Ihre jungen Herren scheinen mir aber diese ernste Sache als Spielerei zu betrachten . . . Mich läßt die Sorge um den Dienst die Nacht nicht schlafen; ich überzeuge mich wiederholt, ob die jungen Herren ihre Ronden gewissenhaft gehen . . . ich gehe ihnen nach, aber ich kann versichern, daß selten einer seine Schuldigkeit thut . . . Also, bitte, machen Sie den Herrn Vorhaltungen und bedeuten Sie ihnen, daß ich sehr bedauern würde, wenn ich Strafen verhängen müßte.”

So ungefähr lauteten die sich oft wiederholenden Klagen des alten Kommandanten, und auch heute hatte er dem Major dasselbe Lied gesungen,

„Sehen Sie da, Herr Major, Ihre beiden Lieutenants, die beiden Gebrüder von Hoppe, — einer sieht aus wie der andere und einer ist so leichtsinnig wie der andere, — den Rondedienst versehen beide gleich unpünktlich. Einer von Beiden hat heute die Ronde, — ich kann die beiden jungen Herren nicht von einander unterscheiden, bitte, warnen Sie den Betreffenden.”

Der Major sagte lächelnd zu; wußte er doch so gut, als das ganze Offizierkorps, daß der Oberstlieutenant die beiden Lieutenants von Hoppe sehr genau unterscheiden konnte, da der jüngere von beiden seiner schönen und guten Tochter sehr erfolgreich die Cour machte, was dem Vater keineswegs angenehm war, da er den flotten Lieutenant nicht leiden konnte.

Nachdem der Major sich seines Auftrages in wohlwollender Weise entledigt hatte und die Wachtparade vorüber war, gingen die beiden Gebrüder von Hoppe in ihre gemeinschaftliche Wohnung, um den Paradeanzug zu wechseln und über die soeben erhaltene Vorhaltung ihre Ansicht auszutauschen. Die beiden Helden unserer Geschichte waren sechsundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt, von schlanker figur, dunkelblondem Haupthaar und hatten hellblonde, wehende Scnurrbärte, so daß einer in der That aussah, wie der andere. Sie waren beide gleich lebenslustig, ohne gerade leichtsinnig zu sein, und da ihr Vater ein wohlhabender märkischer Rittergutsbesitzer und ehemaliger Offizier war, so fanden ihre Bedürfnisse bei demselben hinreichendes Verständniß und genügende pekuniäre Unterstützung. Was wollten sie mehr? Bei den Kameraden ihres heiteren und ritterlichen Wesens wegen hochbeliebt, bei ihren speziellen Vorgesetzten als schneidige und tüchtige Offiziere in bestem Ansehen stehend, war ihnen die Nörgelei des alten Kommandanten höchst gleichgültig und nur in sofern unangenehm, als sie ihnen die Gemüthlichkeit störte. Wenigstens bei Max, dem älteren Bruder, war dies einzig und allein der Fall, während sich bei Hans, dem jüngeren Bruder, nachdem er sich seiner wahren Liebe gegen Fräulein Agnes von Schleichwitz, der Tochter des Kommandanten, völlig bewußt geworden war, doch ein recht empfindliches Gefühl der Unbehaglichkeit hinzugesellte, da er sich sagen mußte, daß die Aussicht auf Erfüllung seiner Wünsche mit der zunehmenden Abgeneigtheit des Vaters seiner Geliebten mehr und mehr in weite Ferne entrückte, ja wohl gar gänzlich dahinschwand.

„Die Geschichte muß ein Ende nehmen,” sagte Hans, als beide Brüde in ihrer Wohnung behaglich beieinander saßen.

„Welche Geschichte, Hans?” fragte Max und blies künstliche Ringe aus seiner Cigarre in die Luft. „Meinst Du die Ronden?”

„Ich meine Beides!” erwiderte Hans lakonisch, indem er ebenfalls blaue Wölkchen von sich blies.

„Beides? Ich verstehe Dich nicht.”

„Herr Gott,” schrie Hans ungeduldig auf, „thu' doch nicht, als wüßtest Du von nichts! Spiele hier nicht den Stockfisch, Mensch! Um zwei Dinge handelt es sich, zunächst allerdings um Deine heutige Ronde, von der ich gewiß weiß, daß sie Dir der geehrte Kommandant wieder auf Schritt und Tritt nachschleichen wird, denn er kann in der Nacht nicht schlafen und macht sich ein Vergnügen daraus, erröthend unseren Spuren zu folgen. Da Du nun jedenfalls wieder irgend eine Dummheit machen und einen verborgenen Posten vergessen wirst, so sind Dir drei Tage Stubenarrest sicher, denn was er uns heute versprochen, das hält er sicher, darauf kannst Du Gift nehmen. Ich aber habe keine Lust, unter Deinen Dummheiten zu leiden.”

„Na erlaube 'mal, Hans,” entgegnete Max lachend, „Dir kann es doch ganz egal sein, wenn ich brummen müßte.”

„Allerdings,” eiferte Hans weiter, „das könnte es; aber ich mag nicht darunter leiden und meine Agnes soll nicht darunter leiden. Der Alte wird uns dadurch noch mehr Feind und schließlich wirft er mich zum Tempel hinaus.”

„Das kriegt das alte Heupferd fertig,” stimmte Max bei.

„Erlaube 'mal, Max,” sagte Hans, „Heupferd ist doch wohl nicht der richtige Ausdruck; bedenke, Du sprichst von meinem zukünftigen Schwiegervater.”

„Ganz recht!” lachte Max, „wir wollen das nicht öffentlich aussprechen, sondern als Familiengeheimniß betrachten. Ich verstehe nur immer noch nicht, was Du beabsichtigst, wie Du die Arrestgefahr von mir abwenden und Dir gleichzeitig daraus einen Nutzen verschaffen willst.”

„Das letztere ist mir auch noch nicht ganz klar, aber geschehen muß etwas,” sagte Hans. „Wir müßten versuchen, ihn für uns milder zu stimmen, vielleicht gar zu Dank verpflichten —”

„Du kannst ihm ja auf Deiner Pickelflöte ein Ständchen bringen und wenn er dann in gelinde Verzweiflung geräth, hörst Du auf und rettest ihn vor dem Aeußersten,” bemerkte Max, auf die etwas zweifelhafte musikalische Ader seines Bruders anpielend.

„Dir fehlt, wie ich Dir schon oft bemerkt habe, jedwedes Verständniß für die Kunst. Nichts desto weniger bringt mich Deine wegwerfende Bemerkung auf eine Idee.”

„Er hat eine Idee!” rief Max hochbelustigt. „Heraus damit, geliebter Bruder und Kamerad!”

„Famose Idee sogar,” lächelte Hans, sich hochbefriedigt in seinem Sessel ausstreckend. „Höre mal zu und sage dann selbst, daß ich ein Kapitalkerl bin. Da keiner von uns den geehrten Schwiegervater in spe aus dem Wasser ziehn oder aus einer sonstigen Gefahr erretten kann — denn ins Wasser geht er nicht und in Gefahr begiebt er sich nicht — so müssen wir ihn anführen und ihn ein wenig blamiren; ist dies geschehen, dann schwören wir ihm ewige Verschwiegenheit und halten den Schwur, solange er sich gegen uns anständig benimmt, und dabei denke ich ihm seine nächtlichen Spaziergänge abzugewöhnen und mir die unvergängliche Dankbarkeit aller in hiesiger Festung rondethuenden Kameraden zu erwerben, für mich selbst aber den Hauptvogel abzuschießen und die Braut einzuholen.”

„Junge, wenn Du das fertig kriegst, soll Dir selbst Dein unglückseliges Flötenspiel vergeben sein!” rief Max aus.

„Warte nur, auch darüber sollst Du nicht mehr spotten,” erwiderte Hans. „Das soll auch eine Rolle dabei spielen. Mein Plan ist fertig — höre: Du gehst heute Abend Deine Ronde wie gewöhnlich und kannst ganz sicher sein, daß der Kommandant hinter Dir dreinschleicht, wie er das schon oft gemacht hat. Ich setze mir den Helm auf und schleiche hinter Euch drein; am Eingang zum Bastion 2 vor der langen Brücke verstecke ich mich hinter dem Thor, und wenn Du dort vorübergehst, kommst Du zu mir und löst mich ab. Dann bin ich Du und locke den alten Schleicher irgendwo hin, wo eine Ronde nichts zu suchen hat, während Du, sobald wir außer Sicht sind, Deine Ronde weiter abgehst, alle Wachen und Posten auf das gewissenhafteste revidirst und Dir der Sicherheit wegen, die Zeit jeder einzelnen Revision und die Namen aller revidirten Posten sorgsam notirst. Wir treffen uns dann nach vollbrachter That bei Kleist in der Weinstube und warten dann ruhig ab, was sich morgen daraus entwickelt.”

„Hans, Du bist ein großer Mann oder —” rief Max lachend und erfreut aus.

„Weiß schon, kenne meinen Schiller auch,” erwiderte Hans. „Wirst wohl nun endlich einsehen, daß auch ein jüngerer Bruder was werth ist.”

Die beiden brüderlichen Attentäter besprachen ihr Projekt nun noch ausführlicher und gingen dann hochbefriedigt zum Mittagstisch, wo sie in Gesellschaft fröhlicher Kameraden die fröhlichsten waren. —

Als auf den Thorwachen um neun Uhr Abends der Zapfenstreich getrommelt und geblasen war, machten sich die beiden Brüder, welche den Abend über ganz ausnahmsweise zu Hause geblieben waren, fertig, um ihren Plan zur Ausführung zu bringen. Es war Mitte Oktober, der Abend war neblich, die Luft jedoch noch immer lau und milde, — so recht ein Wetter für das beabsichtigte Vexirspiel.

Die beiden Brüder wohnten am Marktplatz unweit der Kommandantur und konnten von ihren Fenstern daselbst ganz genau beobachten, wer daselbst ein und ausging; unweit der Kommandantur aber, in einem abgelegenen Seitenflügel des alten Schlosses, befand sich das Festungsgefängniß und das Arrestlokal für die Garnison, woselbst eine besondere Wache stationirt war. Die Revision derselben, sowie der Gefängnißlokalitäten und Arrestzellen mit ihren Bewohnern war eine besondere Aufgabe der Rondeoffiziere, und da dies nicht unerhebliche Zeit in Anspruch nahm, so begannen dieselben in der Regel damit ihren Nachtdienst. Da nun der Kommandant den Herausruf des Postens vor dem Gewehr in seiner Wohnung ganz genau hören konnte, so wurde er dadurch in Kenntniß gesetzt, daß der Rondeoffizier seinen Dienst begonnen hatte, und es war ihm nun leicht gemacht, die Revision daselbst abzuwarten und den weiteren Schritten desselben zu folgen, sofern dies in seiner Absicht lag. Da nun der Lieutenant von Hoppe I auf der schwarzen Liste des Kommandanten stand, so hatte letzterer heute Abend sich vorgenommen, den Dienst des jungen Offiziers genau zu kontrolliren und verließ daher, mit einem alten Mantel und einer noch älteren Mütze bekleidet, seine Wohnung, deckte sich, wie er dies bei solchen Gelegenheiten stets zu thun pflegte, hinter einer Steinsäule des Vorbaues und wartete dort, bis der Betreffende ins Freie trat, um dann den weiteren Schritten desselben zu folgen.

Hans von Hoppe beobachtete dies alles von seinem Fenster aus und verließ, als er bemerkte, daß sein Bruder quer über den Markt ging und der Kommandant längs der Häuser ihm nachschlich, mit Helm und Paletot bekleidet, das Haus, um sich auf dem nächsten Wege nach der verabredeten Stelle am Bastion 2 zu begeben und dort seinen Bruder zu erwarten. Er mußte mit seinem Programm sehr zufrieden sein, denn er lachte schließlich laut auf und wurde mitten in dem lauten Ausbruch seiner Heiterkeit von seinem ankommenden Bruder unterbrochen.

„Ruhig,” sagte dieser, „er ist gar nicht weit von hier und hat sich hinter einem vor dem „Adler” stehenden Frachtwagen versteckt — mache nun, daß Du fortkommst.”

„Famos,” lachte Hans. „Es glückt alles vortrefflich; sobald ich fort bin und den Alten hinter mir herschleppe, machst Du kehrt, gehst über die lange Brücke nach Pulverschuppen 3 und der Henker soll mich holen, wenn er Deine Spur wieder findet — vergiß auch Lünette rechts und links nicht und schreibe Dir Deine Zeugen auf — adieu, um 12 Uhr bei Kleist und, wie es in den Briefen gewöhnlich so schön heißt: alles Uebrige mündlich.”

Damit ging er in gemessenem Dienstschritt auf die Straße, that erst, als wolle er den nächst gelegenen Posten revidiren, schlug aber plötzlich den Weg zum Thor hinaus ein und betrat sodann mit behaglichen Schritten die Promenade des Glacis, nicht ohne sich zu vergewissern, daß sich der Kommandant in gemessener Entfernung hinter ihm befand. Letzterer nun war außer sich; denn eine derartige grobe Vernachlässigung des Königlichen Dienstes war ihm in seinem Leben noch nicht vorgekommen und noch dazu heute, wo er unter ernstlicher Strafandrohung gerade diesen Offizier hatte verwarnen lassen. Die Wachen und Posten der Garnison waren noch nicht zur Hälfte revidirt, bis Mitternacht mußten sie, seinem Befehle gemäß, sämmtlich revidirt sein und eben hatte es vom Kirchthurm elf ein viertel Uhr geschlagen. — Dieser junge Mensch da aber that, als sei ihm das alles furchtbar Wurst und — ha, was ist das! — da setzt er sich sogar ganz gemüthlich auf eine Bank, zündete sich eine Cigarre an und that, als sei es die schönste Maiennacht und er hätte keinen Dienst und nichts weiter zu thun, als auf die Lieder der Nachtigall zu lauschen.

Das ungefähr waren die Gedanken des Oberstlieutenants von Schleichwitz. Was aber sollte nun werden? Sollte er diesem entsetzlichen Dienstvergehen dadurch ein Ende machen, daß er den harmlosthuenden Rondeoffizier zur Rede stellte? Es wäre dies wohl das einfachste gewesen, aber er mußte sich doch sagen, daß dabei seine nächtlichen Schleichgänge bekannt werden würden, und daß er, trotz jenes Dienstvergehens, bei der ganzen Geschichte doch eine eigenthümliche Rolle spiele. Er beschloß daher, sich gehörig und vorsichtig zu decken und abzuwarten, was denn eigentlich der sonderbare Nachtschwärmer da vor sich weiter beginnen werde; so duckte er sich denn hinter die Büsche und wartete das Weitere ab, selbst auf die Gefahr hin, sich einen tüchtigen Schnupfen zu holen.

Unser Lieutenant aber hatte Einsicht genug, seinen Beobachter nicht unnöthig zu langweilen, sondern für sein Vergnügen zu sorgen; er holte seine getreue Pickelflöte aus der Paletot-Tasche und begann in schmelzendem, wenn auch etwas quietschendem Adagio die schöne Arie zu spielen: „Mich verlassen alle Freuden.”

Der Kommandant war starr vor Staunen und Empörung. Nein, so etwas geht über die Hutschnur; statt Ronde zu gehen und Wachen und Posten zu revidiren, geht dieser Mensch ins Glacis und quietscht auf der Pickelflöte — und noch dazu Mitte Oktober bei Nacht und Nebel!

„Dieser Mann muß verstört sein,” murmelte er vor sich hin. „Das ist ja geradezu Wahnsinn — das ist ohrenzerreißender, gepfiffener Blödsinn!”

Es kam aber noch besser. Nachdem der verliebte Lieutenant seinem zerrissenen Herzen auf der Pickelflöte Luft gemacht hatte, steckte er dieselbe wieder ein und begann Heine's berühmtes Gedicht „Erklärung” vor sich hin zu deklamiren. Mit jedem Verse aber kam er mehr in Ekstase, bis er endlich von der Bank aufsprang und laut gegen die Stadt hin den Schlußvers deklamirte:

„Jedwede Nacht lodert alsdann
Dort oben die ewige Flammenschrift,
Und alle nachwachsenden Enkelsgeschlechter
Lesen jauchzend die Himmelsworte:
Agnes, ich liebe Dich!”

„Er ist verrückt oder verliebt,” murmelte der Kommandant, der staunend zugehört hatte. „Vielleicht ist er beides. Nun, morgen sprechen wir uns weiter, Herr Lieutenant von Hoppe!”

Da es mittlerweile Mitternacht geschlagen hatte und die Rondezeit vorüber war, so hatte der Kommandant seinen Zweck erreicht und durfte sich nunmehr vorsichtig rückwärts konzentriren, was denn der freundliche Konzertgeber, dem der Witz zwar unendlich Spaß gemacht hatte, der aber doch recht froh war, seinen etwas kühlen Aufenthalt nun endlich verlassen zu können, sofort nachahmte. Er ging zu Kleist, eine damals sehr besuchte Weinstube, wo er nicht nur seinen Bruder, sondern auch eine ganze Menge höchst fideler Kameraden antraf. Ein stummer Blick des Verständnisses belehrte letzteren, daß das Complott ganz nach Wunsch gelungen sei.

Zufrieden mit ihren Erfolgen schliefen darauf die Gebrüder Hoppe den Schlaf des Gerechten, während der alte Kommandant, trotz seiner Müdigkeit, denselben vergeblich herbeisehnte. Als er endlich ein wenig eingeschlummert war, regten gräßliche Träume ihn fieberhaft auf.

Aber die Stunde der Abrechnung und Vergeltung sollte nicht ausbleiben. Kaum graute der Tag, da entsprang der alte Herr seinem Schmerzenslager, kleidete sich sofort dienstmäßig an und nahm zum Staunen seiner Frau und Tochter, das Frühstück wider seine sonstige Gewohnheit hastig und schweigsam ein. Er sandte nach Beginn der Bureaustunde eine Ordonnanz zum Sekonde-Lieutenant von Hoppe I mit dem Befehl, sofort bei ihm zu erscheinen.

Während Hans, der Hauptakteur in dieser Komödie der Irrungen, bereits eifrig Rekruten drillte, hatte Max, da er des Nachts Rondedienst gehabt, Vormittag Ruhe und war demnach zu Hause, als die Ordonnanz ihm den Befehl des Kommandanten überbrachte. Da er denselben erwartet hatte, so war er bereits angezogen und bereit, der Vorladung umgehend zu folgen. Nach geschehener Anmeldung wurde er sofort von dem aufgebrachten Kommandanten mit grollender Dienstmiene empfangen.

„Herr Lieutenant von Hoppe,” begann der Oberstlieutenant sein Examen. „Sie hatten heute Nacht die Ronde — haben Sie dieselbe vorschriftsmäßig gegangen?”

„Zu Befehlen, Herr Oberstlieutenant!” antwortete Max dienstlich kurz.

„Hm, Herr Lieutenant,” entgegnete der Kommandant, indem er sich die erdenklichste Mühe gab, seinen Blicken etwas Durchbohrendes, Niederschmetterndes zu geben, „ich hätte nicht geglaubt, daß meine noch gestern erlassenen erneuten Befehle und Mahnungen so gänzlich unbeachtet bleiben würden. Sie haben die Ronde nicht in vorschriftsmäßiger Weise gegangen, Herr Lieutenant! Sie haben Ihren Dienst in ganz unverantwortlicher Weise vernachlässigt!”

„Bitte um Verzeihung, Herr Oberstlieutenant, ich —”

„Schweigen Sie, Herr Lieutenent! Es giebt hier keine Entschuldigung; ich würde verzeihen, wenn Ihr Vergehen nichtb geradezu empörend wäre, wenn Sie z. B. von Müdigkeit überwältigt, vor der zeit Ihre Wohnung aufgesucht und den begonnenen Dienst nicht ganz zu Ende geführt hätten. So etwas kann ja vorkommen. Aber im vollen Bewußtsein Ihres Dienstvergehens, gleichsam hohnlächelnd, jedenfalls bis zur Unverständlichkeit übermütig —”

„Aber, Herr Oberstlieutenant, ich verstehe Sie absolut nicht,” rief Max von Hoppe, der sich Mühe gab, seine Heiterkeit zu verbergen.

„Sie verstehen mich immer noch nicht, Herr Lieutenant?” rief der entrüstete Kommandant. „Haben Sie sich nicht statt Ihren Dienst zu verrichten, in das Glacis gesetzt? Haben Sie nicht — mit äußerstem Befremden muß ich es sagen — „Mich verlassen alle Freuden” auf der Flöte gespielt, auf der Pickelflöte noch dazu? Und dann, was sollte das Gedicht mit dem blödsinnigen Inhalt, was die höchste Tanne und was der Name „Agnes”, Herr Lieutenant?”

„Das muß ein Irrthum sein, Herr Oberstlieutenant,” entgegnete Max von Hoppe. „Ich habe meinen Dienst gewissenhaft verrichtet und verstehe von alledem, was Sie sagen, kein Wort.”

„Ein Irrthum ist völlig ausgeschlossen,” schrie der durch die ruhige Ableugnung selbst gemachter Wahrnehmung völlig aus der Ruhe gebrachte Kommandant. „Und Ihr Leugnen macht die Sache nur noch schlimmer! Ich kann eine derartige Vernachlässigung und Verhöhnung des Königlichen Dienstes im allgemeinen und meiner soeben erst erlassenen Befehle im besonderen nicht dulden. Sie haben vorläufig drei Tage Stubenarrest und ich werde mir überlegen, ob ich noch höheren Ortes über Sie berichten muß.”

„Sie werden mir gestatten, Herr Oberstlieutenant, daß ich die soeben erhaltene Strafe meinem Bataillons-Kommandeur melde und auch meinerseits die nothwendigen Schritte thue, um meine völlige Unschuld zu beweisen,” sagte der Lieutenant von Hoppe, indem er sich kurz verbeugte und als keineswegs geknickter Uebelthäter hochaufgerichtet das Zimmer verließ.

Der Kommandant schaute ihm verblüfft nach und wußte in der That nicht, was er von einem derartigen selbstbewußten Benehmen denken sollte. Der Lieutenant nun ging graden Wegs zum Major von Dorpitzki, dem Bataillons-Kommandeur, meldete diesem seinen empfangenen Arrest und legte gleichzeitig unter Vorweis sämmtlicher beweiskräftigen Notizen Beschwerde dagegen ein.

„Haben Sie auch wirklich den Rondedienst richtig versehen?” fragte der Major. „Und woher will der Herr Kommandant das Gegentheil wissen?”

„Mein Ehrenwort, Herr Major, daß ich alle Wachen und Posten revidirt habe,” antwortete Max. „Herr Major brauchen nur die Wachtbücher nachzusehen, worin die Stunde meiner Revision eingetragen ist, sowie die einzelnen Posten befragen, welche bezeugen werden, daß sie mich nicht allein gesehen, sondern daß ich mich auch nach ihren Namen erkundigt und diese aufgeschrieben habe.”

„Aber wozu diese Vorsicht, lieber Hoppe?” fragte der Major.

„Weil uns längst bekannt ist, Herr Major, daß uns der Herr Kommandant in der Nacht heimlich beim Rondengang folgt und weil dabei sehr leicht ein Irrthum entstehen kann, wie das denn auch heute Nacht der Fall gewesen ist,” erwiderte max.

„Und Sie haben keine Ahnung, wie dieser Irrthum entstanden ist?” fragte der Major.

„Ei gewiß, Herr >Major, ich habe sogar genaue Kenntniß davon. Ich bin mit meinem Bruder cerwechselt worden — aber der Herr Kommandant ließ mich ja nicht zu Worte kommen.”

„Nun, so will ich den Irrthum aufklären,” lachte der Major, „doch steckt da sicher irgend ein Streich dahinter, weshalb wir die Geschichte vorläufig mal diskret behandeln wollen. Gehen Sie jetzt ruhig nach Hause, ich werde die Sache in Ordnung bringen.”

Während Max ruhig nach seiner Wohnung wanderte, woselbst er seinen Bruder bereits antraf und mit diesem dann das Abenteuer weidlich belachte, begab sich der Major zu den Wachen, revidirte die Wachtbücher, examinirte die betreffenden Posten und erlangte dadurch die Gewißheit, daß der Lieutenant von Hoppe I in der That in vollem Maaße seine Schuldigkeit gethan habe. Mit diesem Resultat ging er auf die Kommandantur und machte den Kommandanten damit bekannt. Dieser war vollständig perplex und wußte anfangs nicht, was er zu dieser Enthüllung sagen sollte.

„Aber ich bitte Sie, lieber Major, ich soll mich geirrt haben! Das ist ja gar nicht möglich — ich folgte seiner Spur, sein Helm leuchtete weit hin, er verließ die Stadt, ging in das Glacis, setzte sich dort auf eine Bank, rauchte erst eine Cigarre und fing dann an auf der Pickelflöte zu blasen — ich höre sie jetzt noch quietschen —”

„Das alles bezweifle ich nicht, Herr Oberstlieutenant,” sagte der Major lächelnd, „nur haben Sie sich in der Person geirrt; sein Bruder bläst die Flöte und heißt dafür im ganzen Regiment Flöten-August.”

„Flöten-August,” repetirte der Kommandant und knickte förmlich zusammen. „O, dieses unglückselige Flötenspiel hat mich am meisten geärgert — und dann fing er an zu deklamiren . . . . o, Herr Major, schicken Sie mir, bitte, den jungen Mann her, er soll mir selbst erklären, wie das alles gekommen ist — der andere ist natürlich sofort seines Arrestes entlassen und ich werde Gelegenheit nehmen, ihm die nöthige Erklärung abzugeben.”

Der Major ging befriedigt von dannen und sorgte dafür, daß der Lieutenant von Hoppe II sofort Befehl erhielt, bei dem Herrn Kommandanten zu erscheinen. Dieser Befehl traf beide Brüder, als sie gemeinschaftlich großen Kriegsrath hielten.

„Bon!” rief Hans aus. „Nun kann die Bombe platzen.”

Damit stülpte er sich den Helm auf und ging festen Schrittes über den Marktplatz auf die Kommandantur zu.

Der Kommandant empfing den jungen Offizier nicht unfreundlich und konnte sich einer gewissen Neugierde nicht erwehren, den sonderbaren Nachtschwärmer näher kennen zu lernen und den Grund seines eigentlich unerklärlichen Benehmens zu erfahren.

„Man hat sie heute Nacht Flöte spielend auf der Glacispromenade gesehen, Herr Lieutenant — gesehen und gehört . . . . mit dem Helm auf dem Kopf, Herr Lieutenant . . . . ja, mit dem Helm auf dem Kopf und die Flöte spielend . . . . ja, sogar die Pickelflöte . . . . höchst seltsam, in der That, Herr Lieutenant. höchst seltsam! — Wie wollen Sie mir das erklären, Herr Lieutenant?”

„Ob ich dort gesehen und gehört worden bin, weiß ich nicht, Herr Oberstlieutenant . . . . aber dort war ich allerdings zu der angegebenen Zeit, und die Flöte habe ich auch gespielt, das kann ich nicht leugnen,” antwortete Hans in bescheidenem Tone und sah den alten Herrn dabei freundlich lächelnd an.

„ Also es ist richtig . . . . hm! Sehr seltsam, in der That . . . . und deklamirt haben Sie auch . . . . sehr laut . . . . sehr seltsames Zeug . . . . hm . . . . und dabei den Helm auf dem Kopf . . . . äußerst seltsam — auch einen Namen dabei genannt . . . . einen Namen —”

„Der mir unendlich theuer ist, Herr Oberstlieutenant,” unterbrach ihn Hans. „Ich gebe zu, daß, wer mich gesehen und gehört hat, mich kaum verstanden haben wird, Herr Oberstlieutenant, ich bin nämlich ernstlich verliebt, mein Herz jauchzt himmelhoch, weil ich glaube wieder geliebt zu werden, und ist dennoch zum Tode betrübt, weil der Vater meines geliebten Mädchens mir bis jetzt bei jeder Gelegenheit unzweideutige Beweise seiner Abneigung gegeben hat.”

„In der That . . . . hm, höchst seltsam!” brummte der alte Herr und blickte den aufrichtigen Lieutenant erstaunt an. „Und deshalb laufen Sie um Mitternacht im Glacis herum und spielen die Pickelflöte? . . . . In der That, höchst seltsam . . . . und weshalb setzten Sie dazu den Helm auf?” fragte der Oberstlieutenant, dem gerade dieses Faktum am allerseltsamsten erschien, und der durchaus den Grund dafür erfahren wollte.

„Aus Hochachtung für die Dame meines Herzens, Herr Oberstlieutenant!” platzte Hans heraus, der doch unmöglich den wahren Grund dafür angeben konnte, welcher bekanntlich in der Absicht bestand, den Kommandanten irre zu führen.

„Hm, seltsamer Grund! . . . . Sie sind ein sonderbarer Schwärmer!”

„Das sagte König Philipp zum Marquis Posa auch; aber, Herr Oberstlieutenant, der Marquis war Ordensritter und durfte nicht heirathen — ich aber habe sehr stark die Absicht dies zu thun und werde die passende Gelegenheit dazu benutzen, um mein Ziel zu erreichen,” sagte Hans sehr ernst.

„Ei, ei! Sie sprechen ja sehr siegesgewiß, junger Mann,” antwortete der Oberstlieutenant, einigermaßen in Verlegenheit gebracht, da er recht wohl herausfühlte, daß Hans von Hoppe fest auf sein Ziel losging und die ihm aufgedrungene Situation für sich auszunutzen bereit war.

Und diese Absicht hatte er in der That, deshalb trat er einige Schritte näher und sagte:

„Herr Oberstlieutenant, darf ich Ihnen auch den Namen derjenigen nennen, welche mein Herz derartig ausfüllt, daß ich Tag und Nacht nur an sie denke? Es ist Ihr Fräulein Tochter — und ich halte hiermit feierlich um die Hand derselben an.”

Da war es heraus und eine promptere und kürzere Brautwerbung ist wohl selten vorgekommen. Was der Oberstlieutenant dazu gesagt und wie Fräulein Agnes die Sache aufgefaßt hat? Ja nun, das mag sich der freundliche Leser ausmalen — für Liebesgeschichten habe ich kein rechtes Erzählertalent. Thatsache ist, daß der Kommandant kurze Zeit darauf eine große Gesellschaft gab, zu der wir alle eingeladen waren, und daß an dem Abend die Verlobung des jungen Paares proklamirt wurde. Die Geschichte von dem Doppelgänger blieb lange Jahre das Geheimniß der wenigen Mitwisser, und ich selbst habe sie erst nach mehr als zwanzig Jahren erfahren.

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